Dienstag, 28. Februar 2012

31 - Traut den Träumen ...

Langsam und nachdenklich streife ich die Asche meiner Zigarre ab. Sich Selbständig machen, reich werden als Unternehmer, Geld verdienen im Internet, mit Facebook, Twitter & Co, etwas aufbauen und alles versuchen, damit es fliegt, diese Wette, um in sieben Jahren eine Million Euro zu erschaffen: es ist eine tolle, lehrreiche, abwechslungsreiche und phantastische Zeit. Eine Zeit in der ich mir selber zusehen kann, wie ich an meinen eigenen Problemen der verschiedenen Aufgabenstellungen wachse. Immer noch. Jeden Tag lerne ich etwas Neues hinzu. Es füllt mich aus, es begeistert mich, es gibt mir immens viel Energie. Ich würde es nicht missen wollen. Und dennoch, manchmal kommen Zweifel hoch, da frage ich mich, ob ich die richtigen Ziele in meinem Leben insgesamt verfolge.

In solchen Momenten des Zweifels blättere ich gerne ziellos in Büchern von weisen Schreibern, wie zum Beispiel durch Khalil Gibran´s "Der Prophet", um dann an irgendeiner Stelle zu lesen:
"In der Tiefe eurer Hoffnungen und Wünsche liegt euer stilles Wissen um das Jenseits; und wie Samen, der unter dem Schnee träumt, träumt euer Herz vom Frühling. Traut den Träumen, denn in ihnen ist das Tor zur Ewigkeit verborgen."
Ich rauche langsam und mit Genuss weiter. Es ist eine herrliche Zigarre und sie harmoniert hervorragend zu dem Grappa. Meine Gedanken vermischen sich, werden immer lauter in meinem Kopf, bis diese langsam abklingen und vollkommen zur Ruhe kommen.

Ich schaue vom Balkon in den blauen Himmel, es wird schon ein wenig frisch. Ich hülle mich noch mehr in die Decke ein. Ich nehme einen Zug von der Zigarre, lasse den Rauch, der ja der Träger der Aromen ist, einige Augenblicke in meinem Mund um diesen dann langsam wieder auszublasen. Langsam, ohne dass ich etwas dagegen tun kann oder vielleicht auch gar nicht tun will, finden meine Gedanken wieder den Weg zu meiner Mutter und zu jenem Gespräch im Krankenhaus, im Oktober 2003...
Ich fragte den Primar, wie es ihr geht und wie es nun weitergeht. Möglicherweise ist durch die Operation schon alles erledigt. Wenn nicht, muss sie eine Chemo machen. Sie hat einen Horror vor einer Chemo. Ihre beste Freundin hat Brustkrebs. Und eine Chemo. Und als sie mir damals die Geschichte erzählte war sie alles andere als gelassen. Sie hat Angst davor.
Ob ich sie sehen durfte? Natürlich, der Ältere beschreibt mir ausführlich den Weg. Ich läute an der Tür zum Aufwachzimmer. Kurz darauf öffnet sich elektrisch die Tür, ich trete ein. Unsicher trete ich ein, niemand behelligt mich. Leute gehen herum und betreuen die frisch operierten Patienten.
Sie liegt vor mir im Krankenbett. Sie war noch nie krank, ich habe sie noch nie bettlägerig gesehen. Ich streichle über ihren Arm und sie schaut mich sofort an. Sie fragt mich, ob sie im Zimmer ist. Nein, noch im Aufwachzimmer. Ich versuche sie anzulächeln und strenge mich dabei an, nicht zu weinen. Nur nicht weinen. Ich darf und will jetzt nicht weinen. Sie hat eine Sauerstoffmaske vor dem Mund und ich höre nur undeutlich ihre Worte. Sie schaut mich an.  
Eingeliefert wegen einer kleinen Sache. Ein kleiner Eingriff könnte ausreichen, meinte der behandelnde Arzt. Während des Eingriffes wurde der Krebs dann sichtbar und eine radikale Operation war die Folge. 
Sie ist so stark. Selbst jetzt, nach der 4-stündigen Operation ist sie hellwach, fragt mich ob sie 3 kleine Schnitte hat oder ob es doch eine Operation gegeben hat. Ich muss innerlich aufschreien. Sie macht sich Gedanken darüber, ob sie kleine Schnitte oder doch einen großen Schnitt hat, und weiß nicht, dass sie eben eine Operation wegen eines bösartigen Krebses im Anfangsstadium hinter sich hat... 
Ich sage zu ihr, dass ich raus gehe, meine Schwester anzurufen. Ich kaufte mir einen Kaffee am Automaten und ging ins Freie, um zu Telefonieren. Meine Schwester war im ersten Moment ebenso geschockt, machte sich sofort Sorgen wegen ihrem beinahe 10-jährigen Sohn, der seine Oma sehr liebt. Ich denke unwillkürlich daran, dass auch ich meine Oma mit 10 Jahren verloren habe.
Ich kehre zurück und setze mich neben ihr ans Bett. Eine ebenfalls alte Dame im Nebenbett fragt, ob ich ihr Sohn wäre. Die Schwester verneint und meint, sie weiß nicht, wer ich bin. Der Sohn, sagt meine Mutter. Der Sohn, sagt die Krankenschwester zu der alten Frau. Ihr Sohn war schon im Zimmer. Ist schon da ihr Sohn, ist ein braver Sohn. Die Krankenschwester fragt meine Mutter, ob ihr Sohn auch brav sei. Sehr brav ist mein Sohn, sagt meine Mutter. Ich streichle ihren Arm und kämpfe wieder mit meinen Tränen.
Sie schläft leicht ein. Ich halte ihren Arm und betrachte sie. Ich habe sie noch nie solange betrachtet. Das schlimmste an der Situation ist, dass ich nicht viel von meiner Mutter weiß. Welche Beziehung haben wir? Wir waren im Notfall immer füreinander da. Wir lieben uns, aber wir haben es uns noch nie gesagt.
Wieder fragt sie mich, ob sie drei kleine Schnitte hat oder einen großen. Nachdem sie solange da liegt, muss es ein gröberer Eingriff gewesen sein. Nach 4 Stunden Operation so klar im Kopf zu sein, ist beachtlich. Nein, höre ich mich sagen, ein Schnitt. Was genau, weiß ich nicht, bin ja kein Arzt. Ich lache sie an. Aber es ist alles weg. Du bist wieder gesund. In ein paar Tagen wäre sie wieder zu Hause. Leise sagt sie, dass es hoffentlich nicht nochmal kommt. Und schläft ein.
Ich verabschiede mich von ihr. Ich möchte sie schlafen lassen. Ich küsse sie auf die Wange (wir haben uns nie geküsst), streichle ihren Arm und verabschiede mich von ihr.
Ich komme nach Hause. Mit Tränen in den Augen, begrüße ich meine Frau und meine Tochter. Gehe an meinen Schreibtisch und mache irgendetwas, nur um nicht reden zu müssen.
Aber meiner Frau kann ich nichts vormachen. Sie kommt, hält meinen Arm. Und ich beginne zu weinen. Sie fragt mich, ob ich weiß, warum ich weine. Ich kenne meine Mutter mein ganzes Leben und weiß nicht viel von ihr. Wir haben nie miteinander geredet, meine Mutter und ich. Meine Gedanken gleiten ab. Ich denke daran, dass, genau wie mein Neffe heute, ich damals 10 Jahre alt war, als meine Großmutter  starb. Und wieder muss ich weinen. Meine Frau hält mich in ihren Armen.
Ich weiß was du durchmachst, sagt sie zu mir. Sie hat ihre Mutter ebenfalls durch Krebs über lange Monate des Leidens verloren. Wenn du mich was fragen willst, frag mich. Ich erzähl dir gerne, was ich getan oder gedacht oder gefühlt habe. Aber gehen musst du den Weg alleine.
Schreib es auf, meint meine Frau. Schreib auf, was du dir denkst, was du fühlst. Und rede mit deiner Mutter. Egal was passiert. Rede offen mit deiner Mutter darüber. Geh den Weg mit ihr. ICH LIEBE MEINE FRAU! Ich liebe sie einfach über alles. Und so begann ich zu schreiben...
                                                                                     
  
Selbst jetzt, nach neun Jahren, laufen mir beim Korrekturlesen die Tränen über die Wangen.



September 2013. Ich lese mir den Post durch und wieder habe ich Tränen in den Augen. In den letzten 14 Monaten hat sich mein Leben komplett geändert. Ich habe eine andere Art von Liebe kennengelernt. Die Liebe zur Natur. Die Liebe zu kleinen Dingen des Alltags. Die Liebe zu einer wundervollen Frau. Eine vollkommen selbstlose Liebe. Eine Liebe, die nicht fordert sondern gibt und deshalb in der größten Fülle zurückkommt.


Meine Mutter ist gerade 85 geworden. Zum Geburtstag haben wir ihr ein Wochenende in einem grandiosen Wellnesstempel geschenkt. Ich verbringe den ganzen Tag mit ihr, fast nur im Schwimmbecken, auf der Sonnenterasse und im Whirlpool. Besonders der Whirlpool taugt ihr. Wir steigen aus dem Whirlpool. meine Mutter geht Richtung Sonnenterrasse, ich gehe Richtung Sauna. Wir sind vollkommen alleine in der großen Schwimmhalle. Ich drehe mich um und sehe wie diese alte, zerbrechlich wirkende Frau vorsichtig auf den nassen Steinfliesen geht. Ich rufe ihr zu. Sie dreht sich um. Sie schaut mich an. Und dann geht's auf einmal ganz leicht:
        Ich liebe dich, Mutter. Ich dich auch. 








  

1 Kommentar:

  1. Ein sehr bewegender Teil in Ihrem Blog...ich erlebe gerade ein Déjà Vu und fühle mit Ihnen.

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